Ich laufe im Trockenen los. Die Wolken signalisieren Regen. Pfarrer Pawel hat vor einigen Wochen angefragt, ob er ein paar Kilometer mit mir laufen darf. Zum vereinbarten Treffpunkt komme ich einige Zeit zu spät, meine App hat mich über ein riesiges Feld zu einem Weg geführt, den es dann schlichtweg gar nicht gibt. Nicht mal einen Trampelpfad. Das ist mein neues Dasein: Ich muss mit Hürden und Umwegen zurechtkommen. Heute ist es ein enorm weitläufiger Umweg.
Als wir dann miteinander loslaufen, beginnt es sehr stark zu regnen. Dennoch sind wir gut gelaunt. Sich mit einem Seelsorger zu unterhalten, der mit beiden Beinen sprichwörtlich im Leben steht, ist ein wahres Vergnügen. Pawel ist bei der Freiwilligen Feuerwehr, Pawel ist in vielen anderen Vereinen seines Ortes aktiv und nicht zuletzt vom 115 Kilomann zu einem beachtlichen Läufer geworden, der auf Siegertreppchen auch mal ganz oben steht. Als ich mit ihm über den Sinn oder „Un-Sinn“ eines toten Babys spreche, macht er eine Aussage, die ich nicht erwartet habe. „Wenn Eltern mich fragen, warum Gott so etwas zulässt, dann sage ich immer: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Antwort. Und damit, sage ich, sind wir in guter Gesellschaft, denn als Jesus am Kreuz sagte, ‚warum hast du mich verlassen‘, hat er auch keine Antwort bekommen.“
Pawel ist sich gemäß seinem Glauben nur in einem sicher: Den Kindern gehe es gut, meint er. Dennoch löst das Gespräch die Sinnfrage nicht. Hier bin ich ganz bei Viktor Frankl, den ich schon einige Male erwähnt habe. Es sei mir erlaubt, heute hier über die Gedanken dazu zu schreiben:
Die Sinnfrage ist in meinen Augen die Frage aller Fragen. Wir stellen sie uns im Laufe des Lebens ja immer wieder. Welchen Sinn hat die lästige Schule? fragen wir uns schon als Kinder. Oder als Jugendliche: Welchen Sinn machen Freundschaften und die Clique aus? Und dann, in späteren Jahren, als Erwachsene: Welchen Sinn bekommt ein kleiner Garten, in dem wir unser Gemüse anpflanzen? Oder gesellschaftlich wichtige Fragen: Welchen Sinn macht es, den Bus zu nehmen anstelle des eigenen Autos? Oder: Macht es Sinn, wenn ein Leben endet? Wäre es nicht sinnvoller, die Schöpfung hätte uns als ewig Lebende – oder ewig Tote – geschaffen?
Spätestens in unserer letzten Phase des Lebens bemerken wir, dass nicht alles sinnvoll gewesen ist, das wir getan und wofür wir uns eingesetzt haben: Wir bemerken, dass wir vielleicht zu viel Energie in Freundschaften gesteckt haben, die gar keine waren. Wir bemerken vielleicht, dass wir unser Augenmerk von wichtigen Dingen abgewandt haben. In der Rückschau auf unser Leben erst trennen wir die Spreu vom Weizen. Die wesentlichen Momente unseres Lebens fallen erst auf, wenn sie vorüber sind und unwiederbringlich vergangen.
Frankl bejaht die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Sterbens: Wäre das Leben eine endlose Schleife, von der wir wissen, dass sie niemals aufhört, so verlöre die Gegenwart jegliche Bedeutung, da wir niemals vor der Entscheidung stünden, ob das, was wir jetzt gerade machen, sinnvoll ist und am Ende unseres Lebens in der Rückschau zu jenen Dingen gehört, die wir als „sinnvoll“ erachten.
Dies alles Sternenkindeltern zuzumuten, erfordert vielleicht Courage, allerdings kann ich aus heutiger Sicht eindeutig sagen, ich schriebe dies alles nicht, ich liefe all diese Kilometer nicht, ich setzte nicht diese vielen Zeichen, gäbe es meine fünf Sternenkinder nicht. Ich habe dem sinnlosen Sterben, der „Abwesenheit des Glücks“, eine Sinnbehaftung gegeben. Mit diesem Gedanken läuft es sich auch im starken Regen leicht.