Heute laufe ich zum letzten Mal los, dieses Mal vom ersten Schritt an begleitet von einer Fernsehkamera. Wie ich gestern bereits schrieb, kommt mir viel Respekt entgegen, der sich auch in Berichterstattungen niederschlägt. Das Thema bekommt Raum, ich hoffe, es verfehlt auch nicht seine Wirkung. Der Tag heute wird „laut“ werden, in ein paar Stunden schon laufe ich bei meinem Sponsor in den ersten Zielraum ein, auch hier ist geplant, dass eine Fernsehkamera dabei sein wird. Anschließend wird es noch „lauter“, da wir gemeinsam beim Grazathlon starten, rund zehntausend Menschen werden im Zielraum sein, wo ich moderiert einlaufen werde. Und auch eine Kinokamera wird dort auf mich warten.
Und bei all dem denke ich an den ersten, den stillen Tag auf dem Packsattel. Als ich mit „1.200 Kilometer für Sternenkinder“ gestartet bin, vor gefühlt ewigen Zeiten, da widmete ich die ersten Stunden meines Laufes unserem verstorbenen Sohn Pablo, war es doch sein Gedenktag gewesen, als ich mich auf den langen Weg machte – und mit ihm liefen auch alle seine Geschwister mit mir. Die ersten Meter meines Laufes wurden nur von Vera gesehen, die mich irgendwo im Nirgendwo auf meinen Wunsch hin „aussetzte“. Es war – anders gesagt – ein sehr intimer Moment. Mir ist die Gefühlslage, mit der ich loslief, ganz stark präsent, so, wie das Dasein aller unserer Sternenkinder eine enorme Präsenz bei mir hat und immer haben wird. Viele „exklusive“ Stunden habe ich nun mit ihnen verbracht, viele Tage und Wochen gingen ins Land, in denen ich an nichts anderes dachte, von nichts anderem sprach, über nichts anderes schrieb als Sternenkinder.
Die Weltgesundheitsorganisation fasst das Sterben unserer Kinder in Begriffe. Dem Drama werden Benennungen gegeben. Natürlich lese ich sämtliche Erklärungen und Erläuterungen in Fachzeitschriften stets auf der „Matrix“ unserer Erlebnisse. Ein Sternenkind ist laut Weltgesundheitsorganisation der Tod einer aus der Empfängnis stammenden Frucht vor der vollständigen Ausstoßung oder Extraktion aus dem Mutterleib, unabhängig von der Dauer der Schwangerschaft. Der Tod wird dadurch angezeigt, dass der Fötus nach dem Verlassen des Mutterleibs weder atmet noch andere Lebenszeichen erkennen lässt, beispielsweise Herzschlag, Pulsation der Nabelschnur oder deutliche Bewegung der willkürlichen Muskulatur.
Das also sind unsere Kinder, allen voran Pablo: Ein Fetaltod in der 25. Schwangerschaftswoche. Ich weiß nur, dass meine Frau mit grünen Tüchern abgedeckt in einem dunklen, sehr dunklen Krankenzimmer lag, versehen mit einem Sichtschutz, um das Unsägliche nicht betrachten zu müssen. Ich weiß nur, dass es eine Geburt war, eine richtige Geburt, und dass ich meine Gesichtszüge in den seinen erkennen konnte, als er in die Schatten des Krankenzimmers geworfen wurde. Ich weiß, dass ich ihn sofort in den Arm nahm, während ich das verzweifelte Weinen meiner Frau hörte und den Arzt, der meinte, nun sei es überstanden, sie könne sich entspannen. Ich erinnere mich, mit welch großem wissenschaftlichen Interesse der Arzt zunächst den Mutterkuchen betrachtete, dann unseren Sohn.
Heute verstehe ich, dass die Weltgesundheitsorganisation meinen Kindern einen Begriff gegeben hat. Damals hätte ich es nicht verstanden. Pablo wäre zum „Lebendgeborenen“ geworden, hätte er geatmet oder eine der anderen beschriebenen Voraussetzungen erfüllt. Wäre er heute geboren worden, hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit überlebt. Zugleich war er mit seinen wenigen Gramm weit entfernt gewesen von „untergewichtig Geborenen“, die 2,5 Kilogramm auf die Waage bringen müssen.